Für den Doku-Roman “Verschwende deine Jugend” bat Jürgen Teipel vor einigen Jahren Musiker und Künstler der deutschen Punk- und New-Wave-Szene zum Gespräch, um aus ihren Geschichten ein beeindruckendes Portrait der Jugendkultur zusammenzustellen. Und weil sich das Modell der Interview-Collage als Form einer anschaulichen Szene-Doku so gut bewährt hat, erkundet er in “Mehr als laut” mithilfe von etwa 20 weltbekannten DJs auch die Welt der elektronischen Musik.
Im Folgenden stellen wir euch den Roman genauer vor, der für uns genau wie “DJ Culture. Diskjockeys und Popkultur” zu den 5 besten Büchern über DJ-Kultur gehört.
Drop the names
Wir von weltklassejungs.de droppen nicht nur fette Beats, sondern auch Names (verzeiht mir die Albernheiten), wenn wir erwähnen, dass es sich bei den befragten DJs unter anderem um Acid Maria, Dirk Mantei, Miss Kittin, DJ Hell, DJ Koze und Michael Mayer handelt, die – das kann man sich vielleicht denken – die eine oder andere interessante Geschichte zu erzählen haben.
Das Ergebnis dieser gesammelten Anekdoten liest sich aber im Gegensatz zu anderen Dokus nicht wie Szene-Beweihräucherung oder Techno-Extrem-Feier-Lifestyle-Nostalgie-Propaganda. Stattdessen ist man eingeladen, sich anhand der Geschichten ein ehrliches Bild von dem spannenden und normalen DJ-Leben zu machen. Die Faszination für die Laufbahn und den Arbeitsalltag eines DJs kommt in einer Authentizität heraus, die trotz der subjektiven Darstellung einen differenzierten Eindruck vermittelt. Lobend hervorheben darf man auch, dass Teipel sich mit seiner Doku nicht auf die Berliner Technolandschaft beschränkt.
Ein Leben für die Kunst
Es entsteht ein Bild von der Clubkultur und ihren Regeln sowie den Menschen, die diese Szene prägen. Ansichten zum künstlerischen Wesen der DJ-Tätigkeit, Ansprüche an die eigene Kreativität, Veränderungen der Musikszene, Voraussetzungen in dem Arbeitsumfeld, Entwicklungsstufen der Karriere, Anforderungen des Jobs. Selbst uns Hochzeits-DJs sind viele der Szenarien und Gedankenspiele nicht fremd.
Es gibt auch Anekdoten vom Umgang mit dem großen Erfolg und auch diese werden witzig und menschlich vorgetragen. Zu lesen, wie DJ Koze sich mit Lampenfieber wortkarg an die Bar zurückzieht, bestärkt meine ohnehin vorhandene Sympathie.
Hausarbeit, nicht House-Arbeit
Andererseits befassen sich die DJs immer wieder mit extrem alltäglichen Themen. Ganz triviale persönliche Vorlieben, Vorbilder, Partnerschaft, Lebenskonzepte. Wenn Michael Mayer beschreibt, wie Lebensmittel einkaufen für ihn zur attraktiven Freizeitgestaltung wurde, musste ich mich im Geiste auch für all die gemeinsamen Jahre bei Lidl bedanken.
Ladies und Gentlemen
Und als Gendertante muss ich die Selbstverständlichkeit hervorheben, mit der die weiblichen DJs hier vertreten sind. Besonders Acid Maria erweist sich, für den/die in biografischen Belangen unbedarfte/n Leser/in, als DJ mit Expertise, einer beeindruckenden Lebensgeschichte und als wunderbar interessante Person. Der besondere Standpunkt von Frauen in der Kultur kommt bei Teipel gut zur Geltung. Leider bleibt dabei die Konfrontation mit Sexismus und Voruteilen nicht aus, die zur Zeit der Interviews wahrscheinlich sogar stärker verbreitet waren als heute.
Dampf rauslassen
Der Blick hinter das Image der großen DJs wirkt klar und lässt Kritik und Unsicherheiten zu.
Die unangenehmen Seiten der Szene werden ebenfalls gezeigt. Von Ego-Trips der Kollegen, elitärem Gehabe in Plattenläden, kommerzieller Ausrichtung, uncoolen Gigs und unfairen Veranstaltern wird berichtet und sogar Kritik am Publikum wird geäußert, was für einen authentischen Gesamteindruck viel taugt. Und nicht zuletzt wird auch zum Drogenkonsum ausführlich, mit eindeutigen und unterschiedlichen Positionen, Stellung genommen.
Der Mix macht das Set
Die persönlichen Anekdoten der DJs stehen im Vordergrund, doch nach und nach wird aus den Einzelteilen eine gemeinsame Stimme. So bekommt der Leser ein Gespür für die wichtigen Themen der DJ-Kultur. Durch unterschiedliche Ansichten wirkt das Gesamtbild differenziert, die Gedanken der DJs entwickeln sich im Gespräch frei und offen. Dank der privaten Gesprächsathmosphäre entfällt die große allgemeine Aussage und der Konsens der Szene ergibt sich ganz mühelos.
Die Stil ist geprägt durch die sprachlichen Eigenarten der DJs, so liest sich das Gesagte wie unter vier Augen. Für einige der DJs kann man daher leicht eine besondere Sympathie entwickeln, manche Aussagen oder Einstellungen findet man wiederrum auch seltsam.
Durch die thematische Komposition entsteht die Dramaturgie und trotz der Leichtigkeit eine Stringenz im Erzählverlauf. Die Kombination der Ausschnitte wirkt stimmig, denn Teipel ist ziemlich geschickt darin, mit dem roten Faden die Stimmung und ein Gesamtbild der DJ-Kultur einzufangen.
Gerade weil die Gespräche nicht auf allgemeine Wahrheiten zielen, sondern es sich um eine Sammlung privater Erfahrungsberichte handelt, wirkt das große Ganze authentisch.
Fazit zu “Mehr als laut. DJs erzählen”
Eine angenehm hypelose Lektüre, die nicht darauf aus ist, den Mythos einer glorifizierten Szene zu erschaffen, sondern einen offenen Einblick in die Lebensrealitäten der DJs zu geben und so das ehrliche Wesen der DJ-Kultur zu ergründen.
Infos zum Buch
Mehr als laut. DJs erzählen
Jürgen Teipel
235 Seiten
Suhrkamp Verlag
Preis: 14,99 €