In der Interview-Collagen-Doku “Der Klang der Familie” von Felix Denk und Sven von Thülen werdet ihr von Zeitzeugen durch die Ereignisse rund um Aufstieg und Fall der Berliner Techno-Szene in dem Jahrzehnt ab Mitte der 80er Jahre geführt.
Erzählungen über die elektronische Musik-Szene treffen auf Wenderoman
Ganz im Stile von Jürgen Teipels Oral-History-Roman “Mehr als laut” über die Welt der elektronischen Musik aus DJ-Sicht stammen die Erzählungen in “Der Klang der Familie” aus erster Hand: von etwa siebzig namhaften DJs, Künstlern, Clubbetreibern und Partygängern, die von Anfang an Berlins Techno- und Clubkultur mitgestaltet haben. Dabei entsteht über die Betrachtung der Musikszene hinaus ein Wenderoman, der die Lebensbedingungen im geteilten Berlin, den Fall der Mauer, das Aufeinanderprallen von Ost- und West-Jugend und die gemeinsame Entwicklung nach der Wiedervereinigung mit zahlreichen Stimmen beschreibt.
Die Autoren
In diese unterhaltsame Form gebracht wurden die Berichte von den beiden Autoren Felix Denk und Sven von Thülen, die wir euch kurz vorstellen wollen:
- Sven von Thülen ist DJ, Musik-Produzent, Autor und Regisseur. Unter dem Alias s:vt bespielt er die Berliner Clubs, regelmäßig auch die Panorama Bar und veröffentlicht Mixe und eigene Produktionen, die das Anhören lohnen. Zusammen mit Felix Denk u. a. hat er zum vorliegenden Thema auch einen lohnenswerten Reportagefilm veröffentlicht: Party auf dem Todesstreifen.
- Der Journalist Felix Denk ist Buchautor und schreibt für De:Bug, Groove, die Süddeutsche Zeitung und den Tagesspiegel. Das zweite Buch, das er zusammen mit seiner Frau verfasst hat, heißt Eltern, die auf Schaukeln starren: Von Bio-Mamas, iPhone-Papas und anderen Spielplatz-Profis. Es hat wenig mit Techno zu tun, soll aber lustig sein.
Worum geht’s?
Die beiden Autoren verbinden mit dramaturgischem Gespür das umfangreiche Interviewmaterial zu einem spannenden und lustigen Doku-Roman. Darin entsteht ein Ost-West-Portrait, gezeichnet von den vielen Stimmen einflussreicher Charaktere wie Dr. Motte, Mark Reeder, Kati Schwind, DJ Jauche, Cosmic Baby, Mijk van Dijk, Wolle xdp etc.
Sie beschreiben, wie aus dem Aufeinandertreffen der West-Jugend, die sich nach der Postpunk-Lethargie nach einem Aufbruch sehnte, und der befreiten Ost-Jugend mit ihrer ansteckenden Euphorie die erste gesamtdeutsche Jugendbewegung entstand und wie sich diese von der aufregenden Untergrundbewegung zur kommerziellen Ausschlachtung entwickelte.
Die Anfänge der Berliner Techno-Szene
Die hypnotischen und maschinengenerierten Klänge des Acid House aus Chicago und der raue Sound des Detroit Techno verbreiten sich in Berlin, weil diese Musik hier verstanden wird wie nirgendwo sonst. Sie passen zur Stimmung der leerstehenden Abbruchhäuser, Fabrikhallen, Hochbunker, in denen Raves stattfinden und Clubs eingerichtet werden. So wird Techno zur Musik der Wendejugend und mit dem Bezugspunkt Detroit entsteht der typische Berliner Technosound. All diese Entwicklungen und die Stimmung des grauen Berlin, das von einer feierwütigen Jugendkultur mit dem Gefühl grenzenloser Freiheit erobert wird, werden in den Erzählungen athmosphärisch vermittelt.
Der Niedergang
Die Protagonisten beschreiben, wie die Jugendkultur sich über die Jahre mit der Vermarktung des Techno auf ihren Verfall zubewegt. Die großen Raves werden streng organisiert und kommerzialisiert, aus Einheitsgefühl und Gemeinschaft wird Konkurrenzkampf. Unterschiedliche Standpunkte werden bei den Befragten deutlich. Marushas “Somewhere over the Rainbow” wird von den einen als Meilenstein der deutschen Popmusik bewertet, von anderen als das offizielle Ende der Technokultur.
Fazit zu “Der Klang der Familie”
Fast ausschließlich positive Rezensionen finden wir zum Buch und können uns diesen Bewertungen nur anschließen. Es ist eine Zusammengestellung vieler einzelner lustiger, informativer und athmosphärisch wirkungsvoller Anekdoten von qualifizierten Beteiligten. Dankenswerterweise versucht das Buch sich nicht an einer konkreten Aussage, sondern überlässt den Leser dessen persönlichen Eindruck.
Dabei wirkt das Buch sehr stimmungsvoll und authentisch, weil so viele Blickwinkel und Meinungen einfließen und die Autoren sich bewusst im Hintergrund halten. Es ist unterhaltsam und lehrreich, sowohl in Bezug auf die Geschichte von Techno und Jugendkultur als auch auf die historischen Zustände in Berlin und das Alltagsleben in der Zeit um die Wende. Wir können sogar behaupten, dass Technoberlin-Überdrüssige bei diesem Buch mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ihre Kosten kommen werden. “Der Klang der Familie: Berlin, Techno und die Wende” reiht sich ein in die 5 besten Bücher über DJ-Kultur und erhält eine selten ausgesprochene uneingeschränkte Empfehlung von uns.
Infos zum Buch
Der Klang der Familie: Berlin, Techno und die Wende
von Felix Denk und Sven von Thülen
423 Seiten
Suhrkamp Verlag
Preis: 10 Euro